Meine Spinne und ich

04.02.2021

Sie ist nur eine unter vielen bei uns zu Hause. Diese aber hat sich bei meinem Rasierplatz einquartiert und deshalb stehen wir uns jeden Morgen gegenüber, wahrlich Auge in Auge. Es hat nicht lange gedauert, bis mir beim Rasieren einige interessante Fragen durch den Kopf gingen. Was sieht meine Begleiterin von meiner Person, nimmt sie mich überhaupt wahr? Erkennt sie mich jeden Vormittag wieder? Wartet sie sogar vergnügt auf dieses Gegenüber? Wenn ich versehentlich und wiederholt einen Tropfen Wasser auf sie fallen lasse, ist es der Grund, warum sie unseren nächsten Termin verpasst? Hat sie eine Erinnerung an gute und schlechte Erfahrungen? Lernt sie daraus?

Diese Fragen stehen eigentlich im Zentrum einer wissenschaftlichen Debatte: Bewusstsein. Bewusstsein ist die subjektive Erfahrung unserer Umwelt und unseres Selbst. Wir Homo Sapiens haben es zwar sehr weit entwickelt, in vielen Komponenten aber, ist es gleichwohl bei den anderen Wirbeltieren vorhanden. Das ist allerdings bei wirbellosen Tieren umstritten, da bei vielen ein auch sehr kleines Gehirn fehlt. Sind diese Wirbellose deshalb weniger Wert als ich, als wir? Ich sowie die anderen Tierrechtler behaupten: "Nein". Soweit ich weiß, haben bewusstlose Menschen im Koma in unserer Kultur und unseren Gesetzten das gleiche Recht auf Unversehrtheit wie andere!

Aber kehren wir zu meiner Spinne zurück. Sie ist auch wirbellos, gehört aber wie Insekten, Tausendfüßer oder Krebstiere zu dem Stamm Arthropode oder Gliederfüßer, für die Forscher eindeutig gezeigt haben, dass sie die erste Ebene eines Bewusstseins erlangt haben, unter anderem eine mentale Repräsentation ihrer Umwelt. Dies ermöglicht zum Beispiel unserer Honigbiene ein räumliches Lernen und eine Orientierung über sehr lange Entfernungen. Es wird sogar spekuliert, dass Insekten die Fähigkeit haben, Schmerzerlebnisse wie wir zu haben. 

Ich bin also beruhigt: Meine Spinne nimmt mich wahr! 


Ich stelle aber die Frage: Ist die Ähnlichkeit mit uns der Maßstab für einen respektvollen Umgang mit anderen Lebewesen? Ganz im Gegenteil würde ich sagen. Und Folgendes ist anzumerken:

 

Bei unserem Umgang mit nicht-menschlichen Tieren sowie mit anderen Menschen hat unser Verhalten vor allem mit der Empathie für den anderen und mit der emotionellen Stärke der Beziehung, die wir aufbauen, zu tun.


Bei unserer starken Bindung mit unseren Haustieren, die wir nicht in unseren schlimmsten Alpträumen essen würden, ist es eigentlich egal, ob sie so intensiv wie wir über den Sinn des Lebens reflektieren. Sie sind anders und deshalb lieben wir sie. Es bedarf also der Beobachtungsgabe und der Begeisterung für die Vielfalt, die uns die Natur geschenkt hat, sei es die Spinnen beim Rasieren oder die "Nutztiere", die wir den Henkern bis zu unseren Tellern ihrem grausamen Schicksal überlassen.